Das Verhältnis, das zwischen der Carl Zeißstiftung und dem Lesehallenverein besteht, ist nicht so leicht zu definieren. Man könnte vielleicht an eine Ehe denken. Und dann ist der erste Gedanke der an eine Geldheirat. Aber eine solche ist es nicht, auch keine Vernunftehe. Es ist eine wirkliche Liebesheirat. Wir haben stets nur Liebe und Güte in jeder Richtung erfahren, daß wir gar nicht anders können, als heute voll warmen Dankes unserer gegenseitigen Beziehungen zu gedenken. Es ist ein stolzes Gefühl für jeden Jenenser, das dieses schöne und prächtige Bauwerk in ihm erwecken muß. Es gehört nicht einem einzelnen Berufe oder einer einzelnen Klasse, sondern dem ganzen Volke – in dem Sinne, in dem Bismarck einmal sagte: „Zum Volke gehören wir alle.“ Und so glaube ich, ist bei der Errichtung dieses Baues nicht nur das Interesse der Lesehalle, sondern auch der ganzen Stadt von der Carl Zeißstiftung gefördert worden. Denn unser Jena dürfte heute das schönste und vornehmste Lesehallengebäude auf dem Kontinente besitzen. […] Sodann war n o c h eine große Schwierigkeit bei der Gründung der modernen Lesehallen zu überwinden. Auch unser Vaterland ist zerklüftet in Parteien. Man hatte Angst davor, alle Parteien, auch die sozialdemokratische, als gleichberechtigt zu behandeln. Das Prinzip unseres Statuts: „Bei Auswahl des anzuschaffenden und Annahme des angebotenen Lesestoffs ist strenge Neutralität gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Parteien einzuhalten“, erringt sich immer mehr Anerkennung. Wie im Auslande, haben sich auch Leiter und Beamte der bedeutendsten deutschen Bibliotheken zu diesem Grundsatze der tendenzlosen Auswahl der Literatur bekannt. Nicht die Tendenz, nicht der konfessionelle oder politische Parteistandpunkt, sondern nur der literarische Wert eines Schriftwerks darf bei der Aufnahme maßgebend sein. Warum sind hier die unbedingte rücksichtslose Freiheit und die Abwendung jeder Bevormundung notwendig? Weil jeder Druck Gegendruck erzeugt. In dem Augenblick, in dem man einzelne Parteien ausschließt, werden diese geradezu gezwungen, sich eine eigene parteipolitische Lesehalle zu schaffen. Wir aber wollen den Boden der gemeinsamen Kultur, auf dem wir alle stehen, nicht verlassen. Wir wünschen, daß Einer nicht durch die Parteibrille die vielgestaltigen Erscheinungen des Kulturlebens betrachtet. Sein eigenes Parteiblatt hat er zuhause. Wird ihm nun in der Lesehalle die Gelegenheit geboten, auch in das Organ einer gegnerischen Partei einen Blick zu werfen, tut er das und stellt eine objektive Prüfung an, so wird er sich sagen: Mein Gott! So töricht ist das eigentlich auch nicht, was der Gegner sagt. Man wird Kritik üben, man wird sich wohl nicht leicht belehren lassen, aber man wird eine andere Meinung freier, unbefangener zu würdigen lernen. Man wird einsehen, daß es schließlich gar nicht möglich ist, alle Fragen vom einseitigen Parteistandpunkte aus zu beurteilen. So notwendig die Parteien, so notwendig der Kampf der Parteien um Geltung im Staate ist, Eines dürfen wir nicht vergessen, daß über den Parteien steht das Vaterland und die menschliche Gesittung. So wird die Lesehalle auch in diesem Sinne ein Mittel für die Förderung des sozialen Friedens sein. Wie wir in unserm Vorstand, der zusammengesetzt ist aus Angehörigen der verschiedensten Schichten und Parteien der Stadt, uns im Dienst einer guten Sache zusammenfinden in harmonischer Wirksamkeit, wie in unseren Verhandlungen nur sachliche Gesichtspunkte vorherrschen, so wird, wie ich sicherlich hoffe, der Kreis der Aufgaben, die Alle unterschiedslos zu gemeinsamer Mitarbeit vereinigen, ein immer größerer werden. Man ist nicht nur Parteimensch, sondern Mensch. Dieses reine Menschentum immer mehr zur Entwicklung zu bringen, muß als höchstes Ziel winken.